Die Welt in einem Zimmer
Einer der wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts, eine intensive wie tragische Liebesgeschichte und ein Meilenstein der queeren Literatur: James Baldwins Meisterwerk Giovannis Zimmer erscheint anlässlich des 100. Geburtstags des großen Schriftstellers in der Büchergilde.

Es könnte eine epische Liebesgeschichte sein: Zwei Männer, aus den USA beziehungsweise Italien stammend, beide seit langer Zeit in Paris wohnend, sie sind jung, schön, verliebt und ziehen gemeinsam durch das Nachtleben. Dass James Baldwins brillanter Roman Giovannis Zimmer allerdings eine tragische Story erzählt, ist von Anfang an klar. Denn nicht nur leben David und Giovanni in den 1950er-Jahren, als Homosexualität gesellschaftlich mindestens verpönt ist, David ist bezüglich seiner Gefühle für Giovanni auch sehr wankelmütig. Und von der ersten Seite an wissen wir: Giovannis Tage sind gezählt – die Guillotine wartet auf ihn. In dieser letzten Nacht vor seiner Hinrichtung erinnert sich David an ihre gemeinsame Geschichte.

Als David Giovanni in einer Pariser Bar kennenlernt, ist er sofort von ihm hingerissen, alle anderen Gäste, die dieses erste Treffen der beiden jungen Männer beobachten, erkennen: Hier bahnt sich etwas Großes an. David zieht in Giovannis Zimmer, das Zweisamkeit und, fern von öffentlichen Augen, den beiden Liebenden auch Freiheit verspricht. Doch nicht nur wegen der angekündigten Rückkehr von Davids Verlobter nach Paris, auch aufgrund von Geldproblemen und Davids Hadern mit seiner Sexualität wird das kleine dunkle Zimmer für ihn schnell auch zu einem Gefängnis. Die Liebe der beiden jungen Männer wird schließlich nicht nur an den äußeren, sondern vor allem an Davids inneren Umständen scheitern. Auch Giovannis Abwärtsspirale
kann und will er nicht aufhalten – für David gilt es, seine eigene Haut zu retten.
Die Welt ist im Wesentlichen unterteilt in Wahnsinnige, die sich erinnern, und Wahnsinnige, die vergessen. Helden sind rar.
Seit einigen Jahren nun gibt es eine Baldwin-Renaissance im deutschen Sprachraum – zum Glück!, muss man da rufen, denn dass Baldwin, der zu den bedeutendsten US-amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört, überhaupt drohte, in Vergessenheit zu geraten, ist ein kleiner Skandal. Umso schöner, dass die Büchergilde Gutenberg mit Giovannis Zimmer jetzt Baldwins wohl wichtigstes Werk (darüber ließe sich natürlich streiten) 68 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung 1956 mit einem informativen Nachwort von Sasha Marianna Salzmann in ihr Programm aufnimmt. Und das im Baldwin-Jahr: Am 2. August 2024 wäre der in Harlem geborene Autor, der viele Jahre in Frankreich lebte, 100 Jahre alt geworden.

Giovannis Zimmer war gerade für jene Zeit ein radikaler, gewagter und nichts verschleiernder Roman, der auf literarisch-kraftvolle Weise von den Themen Homosexualität, (Davids) internalisierter Schwulenfeindlichkeit, Männlichkeit und Schuld erzählt. So tragisch er teilweise ist, so viele glückliche und freie Momente gibt es aber auch. Durch James Baldwins gekonnten psychologischen wie empathischen Blick und seine feine Figurenzeichnung verleiht er seinen beiden Protagonisten eine facettenreiche Tiefe. Dieser moderne Klassiker ist entsprechend nicht nur im historischen Kontext und als damaliger Skandalroman relevant (Baldwins ursprünglicher Verlag riet ihm, das Manuskript zu verbrennen), sondern in seiner Menschlichkeit auch universell und zeitlos.
Isabella Caldart arbeitet als freie Journalistin, Literaturvermittlerin, Social-Media-Redakteurin und Moderatorin und macht gerne mal Buchbesprechungen für ihren BookTok-Kanal isi_peazy.
Der Autor
James Baldwin (1924–1987) ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen,
Gedichte und Theaterstücke. Er starb in Südfrankreich.
Die Übersetzerin
Miriam Mandelkow, geboren 1963, wurde für ihre Neuübersetzung von Baldwins Von dieser Welt mit dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis ausgezeichnet.